Eduard Mörike arbeitete an seinem Roman „Maler Nolten“, offensichtlich brauchte er Abwechslung und so verfasste er zur selben Zeit, 1828, das Gedicht (₪) „An einem Wintermorgen. Vor Sonnenaufgang“, publiziert wurde es erstmals im Deutschen Musenalmanach, herausgegeben von Adelbert von Chamisso und Gustav Schwab.‖1
Das Gedicht beschreibt den Zustand des Wachwerdens, die Jahreszeit „Winter“ vor allem als Symbol für ein Ende (Nacht) und Neubeginn (Tag).
Ursprung der Welt und das Aufwachen am Morgen
Unterteilt ist das Gedicht in sieben Strophen, die unterschiedliche Längen aufweisen. Wie später noch zu sehen ist, haben die Längen eine ganz eigene Bedeutung.
Offenbar wird das lyrische Ich am frühen Morgen allmählich wach, vermutlich wird es vor sieben Uhr sein, und stellt Fragen allgemeiner Natur. Die vierzeilige Strophe beginnt jedoch mit der Feststellung, dass sich die Zeit am Morgen noch leicht und unbeschwert anfühlt. Die beiden anschließenden Fragen „Welche neue Welt bewegest du in mir?“ und „Was ist‘s, daß ich auf einmal nun in dir / Von sanfter Wollust meines Daseins glühe?“ werden in den darauf folgenden Strophen weitestgehend beantwortet.
Widersprüchliche Stimmung
Eduard Mörike beschreibt nun eine eher sich widersprechende Stimmung. Auf der einen Seite herrscht Klarheit, die Seele ist vom Tag und somit von möglichen Verfehlungen noch unberührt, der blaue Himmel, der sich mit mit einem dünnen Streifen am Horizont zeigt, ist ebenfalls klar. Der Geist ist wach, kann klare Gedanken fassen, ist nicht aufgewühlt sondern ruhig und gelassen. Bilder wie die goldfarbenen Fische im Gartenteich und Heilig Abend unterstreichen diese Stimmung, rufen angenehme Erinnerungen wach, beim Dichter und beim Publikum. Andererseits fallen Begriffe wie Wehmut (6. Str., Z. 3) und Traurigkeit (4. Str., Z. 5), die dem Gedicht einen melancholischen Unterton verleiht. So glücklich das lyrische Ich scheinbar ist, so zerbrechlich ist das Glück, wie das Träumen, welches zunächst als angenehm empfunden wird, kann dann zu einem Stoß ins Feenreich werden. Unklar bleibt hierbei, um welche Art von Feen es sich handelt oder ob es grundsätzlich um eine nicht greifbare Welt geht und deshalb Angst macht, weil Feen Macht über den Menschen bekommen können.
Der auffälligste Widerspruch wird in der zweiten Verszeile der zweiten Strophe beschrieben. Ein Lichtstrahl ist eigentlich ein Neutrum, es kennt kein Gut und Böse, doch Eduard Mörike fügt dem „Strahl“ das Attribut „falsch“ hinzu. Ein Strahl kann dünn oder dick sein, mal stärker, mal schwächer, aber „falsch“ kann es nicht sein. Normalerweise bricht ein Lichtstrahl im Kristall, es wird abgelenkt und ändert dabei die Richtung, doch davon ist keine Rede, vielmehr wird der Strahl mit der Seele verknüpft, ein sehr typisches Merkmal der Romantik. Die Seele überhaupt mit einem Kristall in Verbindung zu bringen, hat Konsequenzen, denn ein Kristall besteht aus einer geordneten Struktur und ist steinhart. Demnach hat die Seele klare Strukturen, ist unverwüstlich, zugleich ist sie dem Schicksal ausgesetzt (hier: Lichtstrahl). Das hat einen merkwürdigen Beigeschmack, denn das bedeutet im Umkehrschluss, nicht der Mensch ist für sein Tun verantwortlich sondern eine Macht, der man ausgeliefert ist. Möglicherweise kommt hierbei das theologische Konzept zum Tragen: die Seele ist auf die Gnade Gottes angewiesen; entweder wird sie von einem guten oder falschen Strahl getroffen. So oder so ist der Mensch somit nur beschränkt seines Glückes Schmied.
Das Formale fördert die Genesis zu Tage
Die erste und fünfte Strophe besteht aus jeweils vier Verszeilen und weist einen umarmenden Reim auf; die zweite und letzte Strophe bestehen aus jeweils sechs Verszeilen. Die zweite Strophe beginnt mit einem Kreuzreim und schließt mit einem Paarreim ab, hingegen ist die letzte Strophe genau umgekehrt aufgebaut. Sie beginnt mit einem Paarreim und endet mit einem Kreuzreim. Die dritte und vorletzte Strophe haben jeweils sieben Verszeilen. Beginnen tut die dritte Strophe mit einem umarmenden Reim, gefolgt vom Paarreim, die Schlusszeile reimt sich mit dem Paarreim. Die vorletzte Strophe weist einen abgebrochenen Haufenreim auf und schließt mit einem Paarreim ab. Die vierte Strophe, die den Mittelpunkt des Gedichts darstellt, besteht aus fünf Zeilen mit dem Reimschema abaab.
Zwischen den Strophen, die die gleiche Anzahl von Verszeilen aufweisen, besteht inhaltlich ein enger Zusammenhang. Jedoch gibt die Anzahl der Verszeilen noch einen ganz anderen Hinweis, nämlich auf die Genesis des Alten Testaments. In Genesis 1 wird die Erschaffung der Welt beschrieben. Der Dichter deutet mit der Anzahl der Strophen den siebentägigen Vorgang der Welterschaffung an, beschränkt sich anschließend auf drei Tage, nämlich auf den fünften, sechsten und siebten Tag. Am fünften Tag erschuf Gott die Tiere, im Gedicht wird dies mit Hirtenflöten und der Krippe in der Heiligen Nacht umschrieben, am sechsten Tag schuf Gott den Menschen, dass in die poetische Sprache mit Seele und Geist des Menschen übersetzt wird sowie mit dem öffnen der Augen (letzte Strophe). Das lyrische Ich wird hierbei aktiv. Am siebten Tag ruhte Gott. Eduard Mörike benennt dies mit dem ruhenden Geist am Morgen, in der letzten Strophe wird der Befehl ausgesprochen, dass der Geist nicht ruhen soll.
Der erste Teil des jeweiligen Tages ist von Passivität gekennzeichnet, der zweite Teil von Aktivität. Demnach bilden die ersten drei Strophen den Zustand zwischen Schlaf und Wachwerden, die letzten drei Strophen kündigen den wachen Zustand an bzw. wird in Aktivität umgesetzt.
Konzept
Zunächst gewinnt man den Eindruck, dass das lyrische Ich den Zustand des Halbschlafs genießt, jedoch wurde deutlich, dass es eher vom Widersprüchlichem begleitet wird.
Im Roman „Maler Nolten“ stehen das Unterirdische bzw. das Göttliche dem Oberirdischen gegenüber, wie Friedrich Theodor Vischer es bei seiner Einordnung in die Literatur formuliert.‖2 Dieses Konzept liegt auch dem Gedicht unter. Zudem erteilt Eduard Mörike eine Absage an die romantische Vorstellung der Mythenwelt, wendet sich dem Realistischen zu, und kann deshalb der Epoche des Biedermeiers eingeordnet werden. In der letzten Zeile wird deutlich, dass nur der wache Zustand königlich ist.
Einzelnachweise:
1: Vgl. Inge Wild, Reiner Wild (Hg.): Mörike-Handbuch: Leben – Werk – Wirkung, J.B. Metzler, Stuttgart – Weimar 2004, S. 108
2: Vgl. Eduard Mörike: Malen Nolten. Novelle in zwei Teilen. Nachwort von Wolfgang Vogelmann, Insel Verlag – Frankfurt am Main, 1979, S. 460
Weblinks:
Kunst braucht Zeit (₪): Halbschlaf