Diß Lied soll um ein Nichts sich drehn,
Nicht um mich selbst noch irgend wen,
Um Frauendienst noch Liebeswehn
Und solchen Tand,
´s ist schlafend auf dem Pfühl geschehn,
Daß ich´s erfand.
Kaum werd ich aus mir selbst gescheit,
Ich fühle weder Lust noch Leid,
Noch Kälte selbst, noch Zärtlichkeit.
Ich ward gebannt,
Daß Nachts auf hohem Berg gefeit
Ich plötzlich stand.
Ich weiß nicht, wach´ ich oder währt
Mein Schlaf noch, wird mirs nicht erklärt;
Beinah hat sich mein Herz verzehrt
Schmerzübermannt;
Doch bei Martial, kein Stäubchen werth
Acht` ich den Brand.
Krank bin ich, fühle Todeswehn,
Kann kaum noch, was man spricht, verstehn,
Such` einen Arzt, und weiß nicht wen,
Der mir zur Hand;
Doch soll die Kur von statten gehen,
Sei er kein Fant!
Die Freundin mein, ja wer ist sie?
Sah ich sie? Nein, nicht dort noch hie.
Nicht misfiel, noch gefiel mir, die
Mir unbekannt,
Bei dem Franzos und Normann nie
Aufnahme fand.
Sah ich sie nimmer, inniglich
Doch lieb` ich sie, so schickt es sich.
Daß ich sie nicht seh`, freuet mich,
Tanterlatant,
Dieweil schon eine beßre ich
Und schönre fand.
Fürwahr, ich weiß auch nicht einmal,
Bewohnt sie Höhe oder Thal;
Und ob sie je mein Herz mir stahl,
Bleib´ unbekannt!
Bewohne sie, – sie hat die Wahl! –
Meer oder Land!
Das ist ein Lied, weiß ich, für wen?
Doch will ich senden es an den,
Den ich es senden mir gesehn
Im Anjouland.
Sein Dietrich, sein Schloß aufzudrehn
Sei mir gesandt!
Ins deutsche übersetzt von Karl Ludwig Kannegießer. Dieser Text ist Gemeinfrei.
Quelle: Karl Ludwig Kannegießer: Gedichte der Troubadours im Versmaß der Urschrift übersetzt, Verlag der J. F. Osiander´schen Buchhandlung, Tübingen – 1855 (2)
Das Rätselgedicht (₪) „Farai un vers de dreyt nien“ von dem französischen Troubadour Wilhelm IX. hat schon so manches Kopfzerbrechen hervorgerufen, in der Literaturwissenschaft gibt es einen bis heute andauernden Diskurs um die Deutung. Trotz alle dem, oder vielleicht genau deshalb, werde ich das Wagnis eingehen und das Gedicht analysieren.
Verflixt und zugenäht?
Wilhelm IX. führt mit den ersten beiden Zeilen der ersten Strophe seine Hörerschaft in das Thema ein (man könnte auch von einem Aufgesang [fronte] in der Kanzone sprechen) und behauptet, dass die folgenden Zeilen sich um Nichts drehen werden, weder um ihn noch um sonst jemanden. Doch warum sollte man ein Gedicht verfassen, wenn man eigentlich nichts sagen will? Vermutlich hatten die Zuhörer*innen schon einen Haufen Lieder gehört, die entweder von der Liebe handelten, von den Dichtern oder von anderen Persönlichkeiten. Wahrscheinlicher ist jedoch, dass Wilhelm IX. zunächst von der Brisanz seines Inhalts ablenken wollte. So oder so klingen die ersten beiden Zeilen nach Abwechslung, nach etwas anderem.
Karl Ludwig Kannegießer übersetzte „durmen“ im dritten Vers bemerkenswerterweise mit „Pfühl“, welches entweder ein großes, weiches Kissen ist oder eine weiche Schlafunterlage, gemeint ist jedoch ein Pferd, genauer: ein Pferderücken. Mit der Aussage, die Verszeilen seien ihm im Schlaf auf dem Pferderücken eingefallen, wird zweierlei deutlich: Zum einen vermittelt das lyrische Ich eine Leichtigkeit des Schmiedens von Versen, was von Wilhelm IX. wohl auch, was wir heute über ihn wissen, realistisch eingeschätzt wird, er hat wohl hunderte von Liedern gedichtet, von denen aber nur noch elf bis zwölf erhalten sind, zum anderen ist er kein armer Jongleur oder ein Troubadour, der von jemanden materiell abhängig ist, ein Pferd muss man sich schließlich erst mal leisten können.
Traumzustand
Die nächste Strophe beschreibt einen Traumzustand, sämtliche Gefühle wie Lust, Leid, Kälte und Zärtlichkeit werden nicht gespürt. Das lyrische Ich befindet sich nachts auf einem hohen Berg. Im damaligen Volksglauben nahm man an, dass ein hoher Berg eine Metapher für die Macht der Feen sei, die besonders bei einer Geburt ihre Finger im Spiel haben, der spätere Troubadour Marcabru verwendete es ebenfalls. Zugleich kann man davon ausgehen, dass dem damaligen Publikum die Artus-Legende geläufig war, der in den Hügeln von Aderley Edge in einer Art Zauberschlaf versunken war, indem er eine Lösung zugeflüstert bekam, man spricht dann von einer Art „Bergentrückung“.‖1 Chretien de Troyes, der kurz nach Wilhelm IX. lebte, verarbeitete die Legende um König Artus in mehreren Romanen und im Auftrag der Enkeltochter von Wilhelm IX., Eleonore, literarisch setzt er ihr damit ein Denkmal.
Nachts auf einem hohen Berg vermittelt demnach einen Helden oder kommt dem zumindest sehr nahe, wie das lyrische Ich die Verszeilen in eine Art magischen Schlaf ersinnt.
Und dann gibt es auch den symbolischen Berg, der eine Verbindung zwischen Erde und Himmel darstellt, stellenweise einer Himmelsleiter gleichgesetzt wird. Häufig wird dies mit einem geistigen Aufstieg assoziiert, in der christlichen Vorstellung wird es gar mit einer Gottesnähe verbunden.‖2a
Durchaus denkbar, dass der Schlawiner Wilhelm IX. sich nicht nur zum Helden stilisiert, sondern auch noch der Kirche, insbesondere dem Bischof Pierre damit eines auswischen wollte. Dieser Bischof hatte ihn nämlich 1117 exkommuniziert. Die Exkommunikation hängt mit der Liaison mit Dangerosa de L‘Isle Boucard zusammen, die um 1116 begann.‖3
Mehrdeutigkeit war im Mittelalter durchaus üblich, letztendlich widersprechen sich die unterschiedlichen Deutungen nicht einmal, das Gedicht wird „geboren“, Wilhelm IX. war ein berüchtigter Frauenheld und verstand sich darauf, eine Kunstpoesie zu erschaffen, immerhin gilt er als der erste Troubadour.
Aufwachphase und Liebesgruß
Thematisiert wird in der dritten Strophe die Unsicherheit des Dichters, schläft er oder ist er schon wach, er befindet sich wohl in der Aufwachphase, ein neuer Tag kündigt sich an und somit neue Möglichkeiten. Immerhin spürt das lyrische Ich wieder etwas, sein Herz tut ihm weh, weil er wohl sehr verliebt ist? In der fünften Zeile wird jedoch deutlich, dass es keinen Sinn macht, die Liebe nieder zu ringen, zu sehr brennt das Feuer der Liebe. Es macht ihn gar krank, so wird es in der vierten Strophe formuliert. Um Heilung zu erfahren, möchte er einen Arzt aufsuchen, kennt aber keinen passenden.
In der „Abhandlung über ‚alte hoch- und niederdeutsche Volkslieder‘“ beschreibt Ludwig Uhland, dass die Bitte um Heilung damals als Wunschdichtung oder als Liebesgruß verstanden wurde.‖4 Und so wollte wohl auch Wilhelm IX. verstanden werden.
Forderung: Liebe muss von jeden anerkannt werden
Dann folgt in der fünften Strophe ein typisches Frage-Antwort-Spiel in Rätseldichtungen. Zunächst fragt sich das lyrische Ich, wer seine Freundin sei, da er sie weder hier noch dort gesehen hat. Gemeint ist wohl, dass er sie weder im Traum auf dem Berg gesehen hat noch kann er sie im Moment sehen, da er alleine unterwegs ist. Was ihn aber wurmt, ist, dass die Liaison weder von den Franzosen noch von den Normannen akzeptiert wird, obgleich er sie sehr liebt. Mit den Normannen ist die Region Normandie gemeint, die Herkunft von Dangarosa.
Anschließend wird der Dichter in der sechsten Strophe sehr deutlich in seiner Wortwahl: wenn sich zwei Menschen lieben, muss dies ausreichen, um allgemein anerkannt zu werden.
Fast wie ein Schneekönig erfreut es ihn, seine Ehefrau Philippa nicht zu sehen, da er eine andere, eine bessere und schönere Frau gefunden hat.
In der vorletzten Strophe hat man den Eindruck, dass es sich um Widersprüche nur so wimmelt, die Rede ist von Höhe oder Tal, von Meer oder Land. Einerseits kann es sich um eine Anspielung auf die typographischen Begebenheiten handeln, Aquitanien liegt im Süden von Frankreich, ist eher hügelig bis bergig, während l‘Isle Bourchard mehr im nördlichen, Landesinneren Flachland liegt. Das Tal kann symbolisch als ein gemeinsames Erleben und Wissen‖2b gedeutet werden, das Meer als „Sinnbild unerschöpflicher Lebenskraft“.‖2c
Die dritte und vierte Zeile ist als Seitenhieb zu verstehen, da häufig bei Verliebten gesagt wird, dass das Herz gestohlen (bzw. gebrochen) wurde. Ganz ehrlich: Wenn Liebe Diebstahl bedeutet, dann möchte ich nicht verliebt sein.
Zankapfel
Bis hierher werden die Literaturwissenschaftler*innen der Analyse folgen, die letzte Strophe stellt den eigentlichen Zankapfel dar.
Ludwig Uhland beschreibt in seiner Abhandlung wie die Menschen im Mittelalter in der Silvesternacht musizierend durch die Gassen gingen und an Türen klopften, entweder wurden sie aufgemuntert weiter zu machen oder sie wurden abgewiesen. Ähnliches kann man sich auch bei Wilhelm IX. vorstellen, er weiß nicht, wen er mit diesem Lied erreichen wird aber eines weiß er sicher, nämlich wer dieses Lied auf jeden Fall erhalten soll. In der vierten Strophe hat er die Adresse auch schon genannt, seine Geliebte und nicht seine Ehefrau soll es erhalten.
Die letzten beiden Zeilen stellen eine Aufforderung dar. Der Dietrich ist so etwas wie eine Allzweckwaffe gegen verschlossene Türen, da man mithilfe eines einzigen Dietrichs gleich verschiedenartige Schlösser geöffnet bekommt. Im Mittelalter wurde der Schlüssel als Symbol für den Abschluss einer Rechtshandlung verstanden insbesondere, wenn eine Übergabe stattfand.‖2d Das lyrische Ich fordert also nichts anderes, als das die partnerschaftliche Beziehung zwischen ihm und der Geliebten legitimiert wird.
Ein weiterer Streitpunkt unter den Literaturwissenschaftler*innen besteht laut Maria Stasyk im ersten Vers der ersten Strophe, da einige in „dreyt nien“ die Zahl 29 erkennen. Dietmar Rieger ist solch ein Vertreter, zur Untermauerung seiner Annahme nimmt er noch weitere Verse hinzu, will darin eine astrologische Auffassung des Dichters sehen. Für die astrologische Auslegung ist das Geburtsdatum von Bedeutung, wobei das Geburtsdatum im institutionellen Sinne von der astrologischen abweicht. Im institutionellen Sinne wurde Wilhelm IX. am 22. Oktober, im astrologischen Sinne wurde er am 29. Tag im Sternzeichen Waage geboren.‖5 Inwiefern im Rätselgedicht ein komplexes Zahlenmuster zugrunde liegt, sei dahin gestellt, denkbar ist durchaus, dass die erste Zeile der ersten Strophe eine Art Visitenkarte darstellt.
Zahlensymbolik hin oder her, man kann die Entstehung des Gedichts zeitlich eingrenzen, es ist wohl zwischen 1117 und bis zu seinem Tod am 10. Februar 1127 entstanden.
Natürlich wollte Wilhelm IX. etwas mitteilen und natürlich ging es um ihn und die Frauen, jedoch in einer anderen Weise wie man ansonsten Liebeslyrik hörte oder las.
Einzelnachweise:
1: Vgl. Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 2, Leipzig 1905, S. 673
2: Vgl. Udo Becker: Lexikon der Symbole. Mit über 900 Abbildungen, Verlag Herder – Freiburg – Basel – Wien
2a: S. 40 f.
2b: S. 297
2c: S. 185
2d: S. 260
3: Vgl. Régine Pernoud: Königin der Troubadoure, Deutscher Taschenbuch Verlag – München 1979, S. 20
4: Vgl. Ludwig Uhland: Abhandlung über ‚alte hoch- und niederdeutsche Volkslieder, Stuttgart – Tübingen – 1844, Band 1, Kapitel 3
5: Vgl. Maria Stasyk: Sprache und Werke von vier Trobadors im Licht der Forschung unter besonderer Berücksichtigung fremdsprachlicher und dialektaler Einflüsse. Dissertation. Universität Siegen – 2006, S. 26 ff.