Rot oder Weiß?
Die vorletzte Jahrhundertwende begann turbulent. Europa wurde von zwei großen Kriegen in tiefe Abgründe gestürzt. Finnland befand sich in dieser Zeit ebenfalls in gewalttätigen Auseinandersetzungen und sie hatten in erster Linie einen Gegner: das eigene Volk. Wie sehr sich die Finnen bekämpften, wird von Kjell Westö in seinem historischen Roman „Wo wir einst gingen“ vielschichtig erzählt.
Die Vielschichtigkeit des Romans besteht aus den unterschiedlichen Charakteren, die vor allem die Mittelschicht präsentieren, die durch den historischen Verlauf sich unterschiedlich entwickeln.
Ivar Grandell ist zunächst Lehrer, doch sein Zeitvertrag läuft aus und er wird Journalist. Er gilt als ein exzellenter Journalist. Seine Texte befassen sich vor allem mit der Lage der Arbeiter. Das wird nicht von jedem begrüßt und am Höhepunkt seines Schaffens legt er seine Arbeit nieder. Seine Ansichten werden radikaler und er schließt sich den Sozialisten an. In den Bürgerkriegen verstrickt er sich in Schuld, die er bereut und sagt bei einer Begegnung mit seinem ehemaligen Schüler Eccu:
„[…] Meine Schuld … wenn ich nur ein Bruchteil begleichen könnte … ein bisschen Wissen, Bildung, etwas, das ihnen hilft, sich leichter aus dieser Misere zu befreien.“ (S. 234)
Eccu Widing wächst mit einem Geschwisterkind auf, das häufiger krank ist. Seine Mutter liebt die Musik und die Literatur, sein Vater ist Pragmatiker, der sich nicht mit gesellschaftlichen und philosophischen Fragen auseinandersetzt. Eccu begreift in jungen Jahren, „das beide Eltern in ihm lebten.“ (S. 51) Während der kriegerischen Auseinandersetzungen gerät er in Gefangenschaft.
Sein Vater liebt die Fotografie und den Sport. Eccu wird in diese Fußstapfen treten.
Bevor die gewalttätigen Auseinandersetzungen in Finnland beginnen, können alle ein ganz normales Leben führen. Solange es um die Staatssouveränität, um die Gründung des eigenen Staates geht, sind sich alle einig, doch dann geht es um Detailfragen, wie die Frage nach dem politischen System: Monarchie, Demokratie, Sozialismus oder, oder, oder. Fast über Nacht müssen sie sich entscheiden: Weiß oder Rot? Welche Gardisten werden die Oberhand gewinnen? Zwischen den Entscheidungsfragen versucht der ein oder andere sich eines Klar zu machen:
„[…] dass all die flammenden Wortbeiträge über Vaterland und Volksstamm und unverzichtbare Werte nur eine panische und unreflektierte Furcht vor allem überdeckten, was fremd und anders war, und zwar sowohl in ihrem eigenen Kreis als auch draußen in der schneebedeckten und eisig kalten Landschaft, in der sie der Feind erwartete.“ (S. 147)
Der historische Roman ist brutal und feinfühlig zugleich. Die Brutalität zeigt sich in dem Handeln der Protagonisten. Feinfühlig entwirft der finnische Schriftsteller die Figuren, die verschiedenen Menschentypen. Kjell Westö, der am 06.08.1961 in Helsinki geboren wurde und seit 1986 Gedichtbände, Erzählungen und Romane veröffentlichte, schont den Leser nicht. Es wird sehr deutlich, dass Kriege immer bedeuten, sich mit Schuld zu beladen.
Die Gewaltexzesse werden häufig mit Naturbeschreibungen eingeleitet, die zunächst Harmloses beinhalten und dann ins Gegenteil kippen. Harmlos ist ein Sommer, im Normalfall kommt Urlaubsstimmung auf, die Stimmung ist gut. Man denkt nicht daran, dass Sommer auch das Gegenteil sein kann:
„Die Sonne, die unbarmherzig über uns brennt, ist ein böser Stern der Unvollständigkeit und Unzulänglichkeit.“ (S. 204)
Treffender als wie Ivar Grandell Anfang Juni 1918 in einer Notiz die Sonne beschreibt, dass symbolisch für den Menschen steht, kann man es nicht ausdrücken.
Nachdem die Weißgardisten einige Dörfer und kleine Städte der Rotgardisten quasi dem Erdboden gleich gemacht haben wird festgehalten:
„Aber dort in der armen Stadt gab es nicht nur Düsternis, sondern auch ein eigentümliches Licht. […]; das Licht der Arbeiterstadt war voller Schattierungen und Schatten, […]“ (S. 222)
Der finnische Autor bedient sich einer Metapher, die es in sich hat, denn grau ist nicht gleich grau, sondern die Farbe kann vielfältig sein, gleichzeitig kann sie Schatten sein, also das nicht greifbare Böse. Die gesamte Stadt ist von Vielfalt und dem Nichtgreifbaren eingetaucht, dargestellt durch das Licht.
Im Jahr 1938, als die Bürgerkriege aufhörten, wird im letzten und Siebten Buch deutlich, dass die Finnen nun verletzbar sind. Die Worte „ein bereits gelbes Birkenblatt klebte auf seiner farblosen Wange.“ (S: 648) haben Ähnlichkeit mit dem Helden Siegfried der Drachentöter im Nibelungenlied, der unverwundbar ist, bis auf die Stelle, wo beim Baden ein Lindenblatt klebte. Im Roman wird die Wirkung des Birkenblattes durch die gelbe Farbe relativiert.
In der Naturheilkunde werden Birkenblätter bei Rheuma, Nierenleiden und chronischen Hauterkrankungen eingesetzt. Demnach wird davon ausgegangen, dass Birkenblätter eine heilsame Wirkung haben, die auch äußerlich angewendet werden können. Für die Stärkung der Durchblutung schlägt man sich in Finnland mit Birkenreisig. Die Birke hat also in Finnland eine besondere Bedeutung.
Das Birkenblatt klebt auf einer Wange, dass heißt, die Finnen fühlen sich wie ins Gesicht geschlagen, doch die Wange ist farblos. Der Schlag ist vorbei, man sieht keine rötlich gefärbten Spuren mehr auf der Haut und dennoch bleibt die Wunde und Verwundbarkeit.
Die inneren Vorgänge einzelner Figuren haben Ähnlichkeit mit den Erkenntnissen von Paul Bäumer in dem Roman „Im Westen nichts Neues“ von Erich Maria Remarque. In beiden Romanen werden die Menschen desillusioniert, doch die größte Kunst besteht darin „Den Menschen zu sehen wagen, wie er ist, und ihn dennoch zu lieben.“ (S. 351)
Kjell Westö: Wo wir einst gingen
Originaltitel: Där vi en gang gatt
Übersetzung aus dem Finnlandschwedischen: Paul Berf
historischer Roman
656 Seiten
Taschenbuch
erschien: 07.06.2010
Verlag: btb
ISBN 978-3-442-74098-7
Preis: 11,95 € (D), 12,30 € (A)